07.09.2023

Untersuchungen von Schädeln stellen bisherige Theorien zur Entwicklung der „Warmblütigkeit“ von Säugetieren in Frage

PRESSEMITTEILUNG
Dr. Quentin Martinez beim Vermessen eines kleinen Nagetiers bei der Feldarbeit.
Dr. Quentin Martinez beim Vermessen eines kleinen Nagetiers bei der Feldarbeit. Copyright: C. Molinier

Stuttgart, 07.09.2023. Die Entstehung der „Warmblütigkeit“ war ein Meilenstein in der Entwicklung der Säugetiere: Die Fähigkeit, eine hohe und konstante Körpertemperatur aufrechtzuerhalten, ermöglicht die Erschließung neuer Lebensräume auch bei rauen Klimabedingungen. Von besonderem Interesse ist demnach der Zeitpunkt in der Evolution der Säugetiere, an dem Warmblütigkeit entstanden ist. Da die sogenannte „untere Nasenmuschel“ – eine Knochenstruktur in der Nasenhöhle – einen Beitrag zur Wärmeregulation leistet, war die bisherige Annahme, dass sie eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Warmblütigkeit spielt.

Ein internationales Team rund um Dr. Quentin Martinez vom Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart konnte nun jedoch zeigen, dass es keine direkte Beziehung zwischen dem Bau der Nasenmuscheln und der Körpertemperatur oder Stoffwechselrate gibt. Damit stellen sie einige der bisherigen Hypothesen in Frage. Für die Untersuchungen machte das Team Mikro-CT-Aufnahmen der Schädel von über 300 Säugetierarten. Ihre Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht.

Schädel von über 300 Tierarten gescannt
Um die Zusammenhänge zwischen dem Bau der Nasenmuschel, der Körpertemperatur und der Stoffwechselrate zu überprüfen, haben Dr. Martinez und sein Team Schädel von 310 verschiedenen Säugetierarten per Mikro-Computertomographie gescannt. Die Schädel stammen aus den Sammlungen mehrerer internationaler Museen und decken eine große Vielfalt an Säugetieren ab. Die Aufnahmen wurden genutzt, um die unteren Nasenmuscheln in 3D zu visualisieren und daraus deren Oberflächengröße und Struktur zu bestimmen. Im Anschluss wurden die so gewonnen Daten mit den Körpertemperaturen und Stoffwechselraten der jeweiligen Tiere verglichen.

Was Säugetiernasen über die „Warmblütigkeit“ verraten
Die detaillierten Untersuchungen zeigen, dass die relative Oberfläche der unteren Nasenmuschel bei vielen Tieren nicht die erwartete Körpertemperatur oder Stoffwechselrate widerspiegelt. Säugetierarten, die ähnliche Körpertemperaturen aufrechterhalten, können sehr starke Unterschiede in der relativen Oberflächengröße aufweisen. So zum Beispiel bei Nacktmullen und Faultieren. Beide Tierarten sind für ihre niedrigen Körpertemperaturen und eine schlechte Wärmeregulation bekannt. Während die relative Oberfläche von Nacktmull-Nasenmuscheln zu den kleinsten unter den Säugetieren zählt, sind die Nasenmuscheln der Faultiere dagegen mehr als dreimal so groß wie es anhand ihrer niedrigen Körpertemperatur zu erwarten wäre.

Ein unerwartetes Ergebnis
„Für die Forschung an fossilen Überresten ausgestorbener Säugetiere bedeuten die Ergebnisse der Studie ein Umdenken. Bisherige Untersuchungen zur Warmblütigkeit ausgestorbener Säugetiere orientierten sich häufig an der relativen Oberfläche der unteren Nasenmuschel, um daraus die Stoffwechselrate und Körpertemperatur der Organismen zu bestimmen. Unsere Resultate zeigen jedoch, dass es sich dabei um einen eher ungenauen Ansatz handelt. Gleichzeitig beweisen wir auch, dass dieses Merkmal keine direkte Verbindung zur Entstehung der Warmblütigkeit aufweist“ so Dr. Martinez.

Für die Redaktionen

Originalpublikation:
Martinez, Q., Okrouhlík, J., Šumbera, R. et al. 2023. Mammalian maxilloturbinal evolution does not reflect thermal biology. Nature Communications, 14, 4425.
DOI: 10.1038/s41467-023-39994-1
https://www.nature.com/articles/s41467-023-39994-1
Veröffentlichungsdatum: 21.07.2023

Das Naturkundemuseum Stuttgart:
Das Naturkundemuseum Stuttgart ist ein zukunftsorientiertes Forschungs- und Kommunikationsinstitut. Seine Forschungssammlungen, die Archive der Vielfalt, beinhalten über 12 Millionen Objekte. Das Museum erforscht die Evolution des Lebens und analysiert die Artenvielfalt verschiedener Ökosysteme und vermittelt Forschungserkenntnisse an die breite Öffentlichkeit.
www.naturkundemuseum-bw.de

Die untere Nasenmuschel – der Wärmetauscher im Kopf:
Obwohl „Warmblütigkeit“ (Endothermie) zu den wichtigsten und erfolgreichsten Anpassungen der Säugetiere zählt, stellt die Erforschung ihrer Entwicklung häufig eine Herausforderung dar. Fossile Überreste weisen meist nur wenige Merkmale auf, die Annahmen über die Körpertemperatur oder Wärmeerzeugung (Stoffwechselrate) der Tiere zulassen. Eines dieser Merkmale ist der Bau der Nasenhöhle und der darin enthaltenen Knochenstrukturen, wie die untere Nasenmuschel. Das gut durchblutete Gewebe um diese Strukturen wärmt eingeatmete Luft auf und kühlt ausgeatmete Luft ab. Zusätzlich entzieht es der Ausatemluft Feuchtigkeit, und leistet so einen Beitrag zur Verringerung von Wärme- und Wasserverlust. Dabei gilt: Je größer die Oberfläche der unteren Nasenmuschel, desto mehr Wärme kann gespart werden. Entsprechend bestand die Vermutung, dass die Entwicklung dieser Strukturen eng mit der Evolution der Endothermie verbunden sein muss.

Kontakt für Fachinformationen:
Dr. Quentin Martinez
Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart, Germany
Tel. +49/(0)711/89 36/178
E-Mail: quentin.martinez@smns-bw.de

Dr. Quentin Martinez steht Ihnen für weiterführende Informationen und Interviews gerne zur Verfügung.

Pressekontakt:
Meike Rech
Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart, Germany
Tel. +49/(0)711/8936/107
E-Mail: meike.rech@smns-bw.de


Bildmaterial:
Bild 1: Bild1_Quentin_Martinez_Copyright_Cécile_Molinier.jpg
Beschreibung: Dr. Quentin Martinez beim Vermessen eines kleinen Nagetiers bei der Feldarbeit.
Urhebervermerk: Cécile Molinier

Bild 2: Bild2_3D_CT-scans_Säugetierschädel_Copyright_Quentin_Martinez.jpg
Beschreibung: 3D-Rekonstruktionen aus den Mikro-CT-Aufnahmen verschiedener Säugetiertierschädel. Die untere Nasenmuschel ist in violett hervorgehoben.
Urhebervermerk: Quentin Martinez, SMNS

Bild 3: Bild3_Nacktmull_Copyright_Quentin_Martinez.jpg
Beschreibung: Ein Nacktmull. Für die Studie wurden auch Nacktmull-Schädel gescannt. Nacktmulle haben eine sehr kleine untere Nasenmuschel und können ihre Körpertemperatur nur schlecht selbst regulieren.
Urhebervermerk: Quentin Martinez, SMNS

Bitte beachten Sie, dass eine Verwendung des Bildmaterials nur im Zusammenhang mit der Publikation und nur mit Urhebervermerk gestattet ist. Vielen Dank.

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