Pappochelys, die Opaschildkröte

06.08.2015 | Prof. Dr. Rainer Schoch

Baden-Württemberg gilt als klassisches Saurierland. Seit über 200 Jahren werden hier Fossilien verschiedenster Reptilien gefunden, und viele von ihnen haben unser Bild der faszinierenden Meeresechsen, Flugsaurier oder Dinosaurier geprägt. Ichthyosaurier aus Holzmaden, frühe Dinosaurier aus Trossingen oder Riesenamphibien aus Kupferzell sind weltberühmt. Mit dem Fund der Ur-Schildkröte Pappochelys kann das Ländle nun mit einem weiteren spektakulären Fossil punkten.

Rekonstruktion der Urschildkröte Pappochelys.

Alles schon erforscht?

„Alles schon erforscht!“ musste ich als Student hören, als es um die Frage ging, was hier noch alles im Boden schlummern mag. „Grabungen lohnen sich nicht, man wird doch nur finden, was man schon lange kennt.“ Kein Wunder, dass man da Pläne hegte, in die USA auszuwandern. Zum Glück bin ich hier geblieben!

Zunächst hatte ich aber auch ohne Grabungen alle Hände voll zu tun. Die riesigen Lurche aus Kupferzell hatten es mir angetan, und ich konnte es zunächst nicht glauben, als ich im Jahre 1994 hörte, dass die 1977 dort geborgenen Schädel und Skelettreste wissenschaftlich noch gar nicht bearbeitet waren. Rupert Wild, mein Vorgänger als Kurator für fossile Amphibien und Reptilien hatte die vielen tausend Knochen beim Bau der Autobahn Heilbronn – Würzburg geborgen. Er vertraute mir dieses Material im Rahmen meiner Doktorarbeit an – so kam ich in Berührung mit dem Lettenkeuper.

Fossilienreicher Lettenkeuper

Diese Gesteinsformation, etwa 240 Mio. Jahre alt, hat es in sich: Bereits in den 1820er Jahren hatte man in Kohlegruben bei Gaildorf Skelettreste der Mastodonsaurier gefunden, der größten Amphibien der Erdgeschichte. Ihre über 10 cm langen Fangzähne locken Sammler regelmäßig in die Steinbrüche, und wenn so viele Augen Ausschau halten, bleiben weitere Funde nicht aus. So wurde die reiche Saurierfundstelle bei Kupferzell von dem Hobbypaläontologen Johann Wegele entdeckt, als er die grünen Tonsteine an der frisch angelegten Autobahntrasse absuchte – und erste Zähne und Knochen von Mastodonsaurus fand. In Kupferzell kamen neben den bis 5 m langen Amphibien auch Skelette von Reptilien zutage: Der Batrachotomus kupferzellensis, ein ebenso großer, landlebender Jäger, verwandt mit heutigen Krokodilen.

So waren es zunächst die damals bekannten Tiere, die uns in einen Steinbruch bei Vellberg lockten. Dort hatten Sammler wie Werner Kugler seit Jahren ähnliche Funde gemacht, allerdings nicht auf großflächigen Grabungen, sondern durch waghalsiges Entlanghangeln an Steinbruchwänden, wo regelmäßig Schädelreste großer Amphibien herauswitterten. Die Sammler, die unsere Arbeit enthusiastisch unterstützten, waren bei diesen Grabungen von unschätzbarem Wert. Kugler hatte schon in den 1980er Jahren auch Reste neuer Amphibienarten entdeckt, und bereits unsere erste Grabung im Jahr 2000 erbrachte Skelette dieser Tiere. Dann aber tauchten auch Knochen und Panzerplatten von Reptilien auf, die wir nicht zuordnen konnten. Es musste sich um neue Arten handeln, wie uns Kollegen aus den USA bestätigten. Es zeigte sich, dass die grauen Tonsteine, in denen die meisten Funde gemacht wurden, in einem Süßwassersee abgelagert worden sein müssen. Neben den Wasserbewohnern, zahlreichen Fischen und Amphibien, kamen immer mehr Reste von Landtieren zutage, die vermutlich in das Gewässer eingespült worden waren.

Die Reste der Ur-Schildkröte wurden in den Ablagerungen eines Süßwassersees gefunden (Bild: SMNS / R. Schoch).

Ein erster Verdacht

Nun folgte eine Grabungskampagne auf die andere, wobei die Betreiber des Steinbruchs uns wohlwollend und tatkräftig unterstützten. Vor allem in den Jahren 2008–2011 fanden wir Dutzende Reptilienskelette – von der spitzmausgroßen Ur-Brückenechse bis zum 2 m langen räuberischen Scheinkrokodil alles vorher unbekannte Arten. Besonders häufig waren Skelettreste eines kleinen Reptils, das anscheinend in dem Vellberger See heimisch war. Schon im Jahr 2001 waren mir blattförmig verbreiterte Rippen aufgefallen, von denen wir auch in den Folgejahren immer wieder einige fanden. Aber erst 2008, als Odontochelys, die damals älteste Urschildkröte der Welt aus China vorgestellt wurde, sah ich diese Rippen wieder: Der Panzer von Odontochelys war aus genau diesem Rippentyp aufgebaut. Da dämmerte mir, dass wir in Vellberg einen Verwandten der Schildkröten gefunden haben könnten, der noch einmal 20 Mio. Jahre älter als die chinesische Urschildkröte war.

Weitere Funde und die Bestätigung: Eine Urschildkröte

Von dieser Hypothese bis hin zur vollständigen Beschreibung dauerte es noch einige Jahre, in denen wir zusätzliche Skelette sammelten, die natürlich auch erst einmal präpariert werden mussten. Isabell Rosin, paläontologische Präparatorin am Naturkundemuseum, hatte mit Feingefühl Verfahren entwickelt, um die filigranen Knochen vom Umgebungsgestein weitgehend zu befreien. Verdeckte Stellen machten wir mithilfe der Computertomographie sichtbar. Jetzt bat ich meinen Kollegen und Freund, Dr. Hans-Dieter Sues von der Smithsonian Institution in Washington, sich die Funde anzusehen. Hans hatte bereits seit Jahren an anderen Reptilien aus Vellberg mitgearbeitet und kennt die Reptilien der Triaszeit wie kein zweiter. Er bestätigte, was ich schon geahnt hatte: Wir hatten den unzweifelhaft ältesten Verwandten der Schildkröten gefunden!

Wir nannten das Tier Pappochelys rosinae (Rosins Opaschildkröte), zu Ehren von Isabell Rosin, die durch ihre Feinpräparation die wissenschaftliche Bearbeitung der Funde erst möglich gemacht. Das Bild des Großvaters drängte sich auf, nachdem die bisher älteste Urschildkröte Odontochelys gerne als „Vater aller Schildkröten“ beschrieben wird.

Pappochelys, die Opa-Schildkröte. Rechts ist vorne, links ist der lange Schwanz erkennbar (Bild: SMNS / R. Schoch).

Vom Skelett zur Rekonstruktion

Wie sah Pappochelys nun aus? Die Tiere waren ziemlich klein – Erwachsene erreichten nur 30 cm Länge, wovon die Hälfte auf den dünnen Schwanz entfiel. Wäre man der Urschildkröte am Ufer des Vellberger Sees begegnet, hätte man sie wohl nicht näher beachtet. Sie glich eher einer kleinen Echse mit dickem Rumpf. Die unzweifelhaften Schildkrötenmerkmale verbargen sich tief unter der Haut, im Skelett: verbreiterte Rippen, die bereits die Urform des Rückenpanzers bildeten, verdickte und gegabelte Bauchrippen, aus denen einmal der Bauchpanzer werden sollte, ein stabförmiges Schulterblatt, das innerhalb des Rippenkorbes die beiden Panzerhälften miteinander verband, und ein Fortsatz am Becken, der mit dem Bauchpanzer Kontakt aufnahm.

Im Rumpf also bereits eine „halbe Schildkröte“, waren die meisten Merkmale im Schädel viel urtümlicher als bei Odontochelys und späteren Schildkröten. Der Schädel hatte eine offene Schläfe, mit zwei großen Öffnungen für die Verankerung von Kiefermuskeln. Die Kiefer trugen Zähne anstelle des Schnabels. Erstmals konnten wir die Struktur und Verankerung urtümlicher Schildkrötenzähne untersuchen.

Pappochelys – Vom Skelett zur Rekonstruktion (Bild: SMNS / R. Schoch).

Die Lösung auf eine alte Streitfrage

Vor allem der Schädelbau hat uns damit der Lösung einer alten Streitfrage näher gebracht: Wer sind die nächsten Verwandten der Schildkröten? Die klassische Antwort der Paläontologen war immer: die ursprünglichen Reptilien, die noch einen geschlossenen Schädel hatten. Seit Jahrzehnten hielten Anatomen und Genetiker dagegen: Nein, es sind die Krokodile und Vögel. Pappochelys ist nun der erste Schildkrötenfund, der den Biologen Recht gibt: Der Schädel unserer Urschildkröte erinnert sehr an den der Brückenechsen und einiger näher mit Krokodilen und Vögeln verwandten Saurier, und inzwischen haben wir eine lange Liste von anatomischen Merkmalen, die eine enge Verwandtschaft der Schildkröten mit den anderen heutigen Reptilien belegen. So gibt unsere Opaschildkröte nicht nur Hinweise, wie der Panzer entstanden ist, sondern auch, woher diese Tiere eigentlich stammen.

Die wissenschaftliche Bearbeitung ist aber noch lange nicht abgeschlossen. Was nun folgen muss, ist die Detailarbeit, die hoffentlich viele offene Fragen klären, aber ganz sicher auch wieder neue Fragen aufwerfen wird.

Literatur

Schoch, R.R. & Sues, H.D. 2015. A Middle Triassic stem-turtle and the evolution of the turtle body plan. Nature DOI:10.1038/nature14472

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