Ein neuer Kurator für die Botanik (fast) ohne Pflanzen

09.02.2018 | Dr. Holger Thüs
Bis ins 19. Jahrhundert war die mit auffälligen gelben Fransen geschmückte Goldaugenflechte (Teloschistes chrysophthalmus) auch in milden Lagen von Baden-Württemberg vertreten, starb dann aber aus noch ungeklärten Gründen aus (Bild: H. Thüs).

Kurator für Botanik (fast) ohne Pflanzen – was es damit auf sich hat

Wenn ich beschreiben soll, für welche Organismengruppen ich in meinem neuen Job zuständig bin, dann klappt das am besten im Ausschlussverfahren: „fast alles was nicht blüht und trotzdem kein Tier ist“ trifft es ganz gut.

Im August 2017 bin ich nach neun Jahren am Natural History Museum in London zurück nach Deutschland gekommen. Als Kurator bin ich nun hier in Stuttgart verantwortlich für den Erhalt, die Entwicklung und eine möglichst optimale Nutzung eines rund 400 000 Objekte umfassenden Teils der Botanischen Sammlung. Dieser Teil umfasst von den Cyanobakterien, Schleimpilzen und verschiedensten Algengruppen bis hin zu den „echten“ Pilzen und den Moosen fast alles, was Botaniker historisch als Kryptogamen (den versteckt Blühenden) bezeichnet haben. In Wahrheit „blühen“ diese Organismen aber überhaupt nicht und bis auf die Moose handelt es sich auch nicht um Pflanzen. Genetisch sind Pilze und auch viele Algen von den Pflanzen ebenso weit entfernt wie eine Kuh von einer Rose.

Meine eigene Forschung konzentriert sich auf die ökologische Gruppe der Flechten. Wer sich mit Flechten beschäftigt, arbeitet automatisch mit einem Gemisch aus Pilzen, Algen und oft noch weiteren Organismen. Bei den Flechten repräsentiert jeder Einzel-„Körper“ nicht nur einen einzigen Organismus, sondern ein ganzes Mini-Ökosystem, denn jede Flechte bestehend aus einem oder mehreren Flechten bildenden Pilz(en), einem Fotosynthese betreibenden Partner (entweder eine Alge oder ein Cyanobakterium – manchmal auch beide!) und einer Vielzahl weiterer überwiegend mikrobieller Komponenten, deren Rolle(n) in der Symbiose wir gerade erst anfangen zu verstehen.

Wozu Flechtenforschung?

Wegen ihrer Nutzungsmöglichkeiten als Anzeiger der Luftqualität faszinierten mich die Flechten schon Ende der achtziger Jahre. Damals hatte ich als Schüler mit einer Kartierung dieser Organismengruppe in meiner Heimatstadt Ratingen in Nordrhein-Westfalen begonnen. Heute interessieren mich Flechten nicht mehr nur als Bioindikatoren, sondern auch als Quelle pharmakologisch interessanter Naturstoffe, als Modelle für die Funktionsweise von Ökosystemen und nicht zuletzt als ästhetisch immer wieder überraschende Wunderwerke der Natur.

Als Folge des Klimawandels, neuer Praktiken in Land- und Forstwirtschaft sowie des technischen Fortschritts bei der Verbrennung fossiler Energieträger verändert sich die Zusammensetzung der Flechtengemeinschaften auch hier in Baden-Württemberg sehr rasch. „Neue“ Arten aus dem Süden wandern ein und einstige Seltenheiten werden plötzlich häufiger, während andere verschwinden (Wirth et al. 2011, Stapper & Aptroot, 2011). Mich interessiert, welche Folgen das für die an Flechten als Lebensraum und Nahrungsquelle gebundenen Tiere, Pilze, Algen und andere Mikroben hat. Unsere Sammlung hier am Museum dient dabei als Quelle für Referenzpunkte eines Vergleichs zwischen früher und heute. Jedes Objekt („Beleg“) dokumentiert nicht nur das Vorkommen eines Organismus an einem konkreten Platz in Raum und Zeit, sondern auch wie gut entwickelt die Exemplare einst waren. Damit wird ein Blick in die Vergangenheit einer Landschaft ermöglicht (Schöller et al. 1999).

Dieser vergleichende Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Folgen des Klimawandels überlagert werden von den Auswirkungen eines sich ständig ändernden Cocktails an Schadstoffen in der Luft. Aktuell sind vor allem verschiedene Verbindungen des Stickstoffs zum Motor der Veränderung ganzer Ökosystem geworden. Ebenso wie beim Klimawandel gibt es auch hier Artengemeinschaften, die relativ robust gegen die veränderten Umweltbedingungen sind und andere, bei denen bereits vergleichsweise kleine Änderungen große Effekte nach sich ziehen. Ich versuche am Beispiel der Flechten herauszufinden, welche Lebensräume besonders anfällig sind, wie sich Veränderungen im Artengefüge auf die Funktionen unserer Umwelt auswirken und wie dem entgegen gewirkt werden kann.

Meister der Stressbewältigung

Flechten können viele Jahrzehnte alt werden und zeitweiliger Stress durch sich ändernde Umweltbedingungen ist daher an vielen Standorten nichts Ungewöhnliches. Flechten bilden daher besondere Substanzen, die als Schutz gegen übermäßige UV-Strahlung, Hitze oder bestimmte Schadstoffe dienen (LeDevehat et al. 2014). In Zusammenarbeit mit Naturstoffchemikern versuche ich die Rolle dieser Flechtenstoffe besser zu verstehen und dabei mit etwas Glück vielleicht auch zu helfen, den einen oder anderen Naturstoff zu isolieren, der uns als Grundlage für neue pharmazeutische Produkte dienen kann (Duong et al. 2017). Mein bevorzugtes Forschungsobjekt sind Flechten aus teilweise oder ganz überfluteten Lebensräumen und auf der Suche nach immer stresstoleranteren „Wasserflechten“ war ich zuletzt von tropischen Flüssen auf Borneo bis zu Wasserfällen in den kalten Regenwäldern im Süden Chiles unterwegs (Thüs et al. 2014, Fryday & Thüs 2017). Hier interessiert mich auch, wie weit in unterschiedlichen Kontinenten und bei unterschiedlichem Klima ansonsten ähnliche ökologische Nischen besetzt werden. Oft sind dabei genetische Methoden nötig, z.B. die Verwendung des „genetischen Fingerabdrucks“, um die äußerlich oft äußerst ähnlichen Arten zu unterscheiden (Thüs et al. 2015). Das Ziel der Arbeit ist, letztlich Schlüsse zur „Ersetzbarkeit“ einzelner Arten z.B. als Folge des globalen Klimawandels abzuleiten.

Bis ins 19. Jahrhundert war die mit auffälligen gelben Fransen geschmückte Goldaugenflechte (Teloschistes chrysophthalmus) auch in milden Lagen von Baden-Württemberg vertreten, starb dann aber aus noch ungeklärten Gründen aus (Bild: H. Thüs).

Überraschungen vor der Haustür

Manchmal jedoch warten die interessantesten Funde quasi direkt vor der Haustür. Ein Sonntagsspaziergang im Stuttgarter Westen führte mich zufällig zu einer überraschend stattlichen Population der ständig untergetaucht lebenden Gewöhnlichen Bachwarzenflechte (Hydropunctaria rheitrophila). Das ist eine Art, die in Baden-Württemberg trotz ihres irreführenden deutschen Namens bislang nur aus wenigen Bächen im Süd-Schwarzwald und von der Schwäbischen Alb bekannt war. Ein kleines, noch lebendes Stück dieser Flechte habe ich dann auch sofort an meine Kollegen in Prag weitergegeben, wo nun der Algenpartner der Flechte isoliert und bestimmt werden soll. Hier in Stuttgart untersuche ich parallel dazu mit Hilfe des genetischen Fingerabdrucks die genaue Identität der Pilz-Komponente der Flechte. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass es sich bei dem, was bislang für eine einzige Art gehalten wurde, in Wirklichkeit um mehrere, äußerlich kaum zu unterscheidende Sippen mit jeweils spezifischen ökologischen Ansprüchen handelt.

Äußerlich ganz ähnliche Arten von Wasserflechten der Gattung Hydropunctaria hatte ich zuvor schon in den Gebirgen von Costa Rica und in Malaysia gefunden. Damit stellt sich die Frage, wo diese Flechten entstanden sind und auf welchen Wegen die weit auseinander liegenden Vorkommen besiedelt worden sind. Diese Fragen untersuche ich zusammen mit Kollegen aus fast allen Kontinenten. Die Stuttgarter Funde werden dadurch zu einem Mosaikstein in einem weltweiten Bild der Evolution und Vielfalt dieser Gruppe der Wasserflechten.

Die steilen, blockreichen Bachtälchen („Klingen“) im Stuttgarter Raum sind wertvolle Lebensräume für seltene Wasserflechten (Bild: H. Thüs).

Literatur

  • Duong T.H., Huynh B.L.C., Chavasiri W., Chollet-Krugler M., Nguyen V.K., Nguyen T.H.T., Hansen P.E., Le Pogam P., Thüs H., Boustie J., Nguyen K.P.P. (2017): New erythritol derivatives from the fertile form of Roccella montagnei. Phytochemistry 137: 156–164; doi: 10.1016/j.phytochem.2017.02.012
  • Fryday A. & Thüs H. (2017): The genus Xenolecia (Lecideaceae s. lat., Lecanoromycetidae inc. sed.), including a second species in the genus from Campbell Island, New Zealand. The Lichenologist 49: 365–372; doi:10.1017/S0024282917000287
  • Le Devehat,F., Thüs, H., Abasque, M.L., Desmail, D., Boustie, J. (2014): Oxidative Stress Regulation in lichens and its relevance for survival in coastal habitats, In: Sea Plants, Elsevier : 471–507.
  • Schöller, H., Thüs, H., Böttner, M. (1999): Flechten (Lichenes) als Indikatoren zur Bewertung von Ökosystemen und ihre Bedeutung für den Naturschutz. Kleine Senckenbergreihe 32 : 121–134.
  • Stapper, N. & Aptroot, A. (2011): Flechtenerhebung an Wald-Dauerbeobachtungsflächen in Baden-Württemberg. LUBW Fachdokumente, Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg (Hrsg.). 1–54. https://pudi.lubw.de/detailseite/-/publication/95703
  • ID Umweltbeobachtung U51-M322-J11
  • Thüs, H., Orange, A., Gueidan, C., Pykälä, J., Ruberti, C., Lo Schiavo, F., Nascimbene, J. (2015): Revision of the Verrucaria elaeomelaena species complex and morphologically similar freshwater lichens (Verrucariaceae, Ascomycota). Phytotaxa 197: 161–61; doi: 10.11646/phytotaxa.197.3.1
  • Thüs, H., Aptroot, A., Seaward, M. (2014) Freshwater Lichens, In: Freshwater Fungi and Fungus like organisms, De Gruyter : Berlin. 333–358.
  • Wirth, V., Hauck, M., von Brackel, W., Cezanne, R., de Bruyn, U., Dürhammer, O., Eichler, M., Gnüchtel, A., John, v., Litterski, B., Otte, V., Schiefelbein, U., Scholz, P., Schultz, M., Stordeur, R., Feuerer, T. & Heinrich, D. (2011): Rote Liste und Artenverzeichnis der Flechten und  flechtenbewohnenden Pilze Deutschlands. Naturschutz und Biologische Vielfalt 70: 7–122.

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