Eine Fliege macht noch keinen Sommer: Der Massenflug von Eintagsfliegen an der Enz

29.09.2020 | Dr. Arnold Staniczek

Am Freitag, den 21. August, erreichte mich nachmittags der Hilferuf der Vaihinger Kreiszeitung in Form einer E-Mail: „Sind Sie heute noch erreichbar? An der Enz in Vaihingen an der Enz gab es gestern ein großes Eintagsfliegenspektakel. Vielleicht können Sie aufklären, um welche Art es sich handeln könnte …“.

Das Uferaas (Ephoron virgo), eine charakteristische Massenart unserer Flüsse (Bild: A. H. Staniczek / SMNS).

Das Uferaas

Mein sofortiger Verdacht bestätigte sich, als ich das mitgeschickte Foto sah, auf dem zahllose Insektenleichen die Straßenränder auf der Brücke über die Enz bedeckten: das Uferaas! Dazu muss man wissen: Bei Erwähnung des Namens „Uferaas“ läuft Eingeweihten ein wohliger Schauer den Rücken herunter, denn dieses Tier weckt Erinnerungen an bessere Zeiten für Insekten. Das Uferaas, wissenschaftlich Ephoron virgo, ist eine Eintagsfliege, die in vergangenen Jahrhunderten berühmt für ihre sommerlichen Massenflüge an den Unterläufen größerer Flüsse war.

So berichtete schon 1757 Jacob Schäffer in seiner Abhandlung Vom fliegenden Uferaas, wegen desselben am elften Augustmon. an der Donau, und sonderlich auf der steinernen Brücke, zu Regensburg ausserordentlich häufigen Erscheinung und Fluges: „Es habe nämlich am 11ten des gegenwärtigen Augustmonathes, Abends gegen 11 Uhr, da es sehr schwül gewesen, und ein starkes Donnerwetter am Himmel gestanden, auch schon wirklich geblitzt habe, eine ungeheure Menge fremder und unbekannter Fliegen, oder, wie einige es nannten, Vögel geregnet. Diesselben wären, wie an verschiedenen Orten des Donaustromes, so sonderlich auf hiesiger steinernen Brücke, in solcher Höhe niedergefallen, daß sie am letzten Orte nicht nur alle Steine gänzlich bedeckt hätten, sondern auch hin und wieder 2 und 3 Zolle hoch übereinander gelegen wären. Wer zu derselben Zeit auf der Brücken gegangen oder gestanden seye, wäre von denselben ganz weiß, wie überschneiet, geworden.“

Was Jacob Schäffer in Regensburg wunderte, wusste im 19. Jahrhundert jeder Einheimische an der Elbe: Längs des Flusses wurden in regelmäßigen Abständen Feuer entfacht, um die schlüpfenden „Weisswürmer“ anzulocken, die nach Sonnenuntergang mitten aus dem Gewässer emporstiegen. Karl Ruß schrieb 1887 in der damals populären Zeitschrift „Die Gartenlaube“: „Nach altherkömmlicher Gewohnheit, ohne Streit und Zank, nehmen die Leute familienweise von je einer Stelle am Ufer Besitz, errichten einen etwa 3 Meter großen viereckigen Herd, unmittelbar am Wasser und ein wenig in den Strom hinein, bauen in der Mitte eine kleine Feuerstelle auf und legen auf diese ein altes Drahtgeflecht. Darauf stellen sie einen weiten, irdenen Topf ohne Boden und entzünden in diesem Kienholz. Bald umschwärmen die Hafte jedes Feuer förmlich wie Schneeflocken zu Millionen, fallen mit versengten Flügeln auf ringsum ausgebreitete Sackleinwand nieder, werden zusammengekehrt und in Körbe geschüttet…Die an der Luft getrockneten, durch Schütteln und Abblasen von den Flügeln befreiten Hafte werden nun als Weißwurm in den Handel gebracht.“ Genutzt wurden die Tiere nicht nur als Fischköder oder Futter für Ziervögel. Bauern verfütterten die Unmengen an Insekten auch den Schweinen oder brachten sie gar auf den Feldern als Dünger aus.

Historische Abbildung des Fangs von Uferaas an der Elbe mittels Feuer.

Mit Lichtfalle auf Insektenfang

Solche Bilder im Kopf, tut man als Insektenkundler einfach das, was man tun muss: Lichtfalle, Insektenkescher, Sammelröhrchen, Pinzette und Kamera einpacken und losfahren! Der abendliche Schlupf und Schwarmflug des Uferaases ist zeitlich präzise getaktet und beginnt etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang. Rechtzeitig in Vaihingen/Enz angekommen, sah ich mitten in der Stadt auf der Brücke über die Enz noch das Ende des gestrigen Schwarmes: Zentimeterhoch lag eine Schicht der verendeten Tiere am Straßenrand, in der Regel besonders dort, wo sich Straßenlaternen befanden.

An der Enz selbst stieg dann ab dem Sonnenuntergang um 20:26 Uhr die Spannung. Ich begann rechtzeitig mit dem Aufbau des Leuchtturmes, um den Beginn des Fluges nicht zu verpassen. Um die Tiere anzulocken, verwenden wir Entomologen batteriegespeiste LEDs, die einen besonders hohen Anteil an ultraviolettem Licht abstrahlen. Diese werden in einem Turm aus weißer Gaze platziert, so dass sie von allen Seiten gut sichtbar sind und die angeflogenen Tiere sich gut an der Gaze festsetzen können. Der Boden um den Leuchtturm wird mit weißem Tuch ausgelegt. Da dieses Licht für viele Insektenarten unwiderstehlich ist, ist ein Betrieb solcher Anlagen im Freien generell nur mit einer besonderen Genehmigung erlaubt.

Im Handel werden übrigens des Öfteren Insektenfallen angeboten, die auf dem gleichen Anlockungsprinzip basieren und im Garten Stechmücken außer Gefecht setzen sollen. Das funktioniert jedoch nicht: Stechmücken fliegen nämlich nicht auf UV-Licht, sondern folgen auf der Suche nach einem atmenden Opfer einem erhöhten CO2-Gradienten. Stattdessen verenden dann in solchen automatischen UV-Lichtfallen zahlreiche andere, völlig harmlose Insekten. Daher ist der Betrieb im Freien zu Recht verboten (und in der Wohnung nutzlos).

Munteres Stelldichein von Arten

Welche Anziehungskraft solche Fallen haben können, konnte ich an diesem Abend wieder eindrucksvoll erfahren: Bereits wenige Minuten nach dem Einschalten um 21:00 Uhr flogen hunderte kleiner Eintagsfliegen aus der Umgebung an, und ich begann zu registrieren: Baetis scambus, Serratella ignita, Ephemera danica, Ecdyonurus dispar, Potamanthus luteus, Oligoneuriella rhenana… Ein munteres Stelldichein der Arten, die gerade ihre Entwicklung als Larven im Wasser der Enz beendet hatten und deren Zeit zur Fortpflanzung als geflügeltes Insekt jetzt gekommen war. Darunter waren an diesem Abend vor allem Arten, die sich wie der Gelbhaft (Potamanthus luteus) oder die Rheinmücke (Oligoneuriella rhenana) in den Unterläufen größerer Flüsse entwickeln und sich vor wenigen Jahrzehnten in Deutschland wegen der damals schlechteren Wasserqualität noch am Rande des Aussterbens befanden.

Auch der Gelbhaft (Potamanthus luteus), eine weitere charakteristische Eintagsfliege unserer Flüsse, zeigte sich am Licht (Bild: P. Maihöfer).

Trauriger Tiefpunkt

Auch Ephoron virgo, das Uferaas, hatte im Nachkriegsdeutschland im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs bald Bekanntschaft mit Persil und Co. im Fluss gemacht. Rasch gehörten die Massenschwärme durch die zunehmende Schadstoffbelastung unserer Flüsse der Vergangenheit an und wurden immer seltener. Ende der 1970er Jahren galt die Art in ganz Deutschland als verschollen – ein trauriger Tiefpunkt. In diesem Fall war die Entwicklung glücklicherweise umkehrbar: Mit dem Bau von Kläranlagen wurde auch die Wasserqualität in unseren Flüssen wieder besser. Mit dem Rückgang von Schadstoffen wie etwa Ammoniumstickstoff und einem verbesserten Sauerstoffgehalt kehrte auch das Uferaas zurück. Erste Flüge wurden bereits Anfang der 1980er Jahre im Main beobachtet, zu Beginn der 1990er Jahre erfolgten dann die ersten Massenflüge im Rhein bei Köln und Bonn. Seither hat sich das Uferaas sukzessive seinen alten Lebensraum zurückerobert. In Baden-Württemberg war es in vergangenen Jahrhunderten neben Main und Tauber vor allem aus dem Unterlauf des Neckars und seiner Nebenflüsse Jagst und Kocher bekannt. Und nun war es also wieder so weit: Nachdem das Uferaas Mitte der 1990er Jahre in Heidelberg und Neckargemünd angekommen war, wurde es 2006 zum ersten Mal im Unterlauf des Kochers nachgewiesen. Ich hatte es schon lange weiter im Süden erwartet, und nun war es endlich eingetroffen: Das Uferaas hat es im Laufe der letzten Jahre flussaufwärts am Neckar entlang bis zur Enz geschafft.

Aktuelle (seit 1985, schwarze Punkte, Funddaten SMNS und LUBW) und historische (graue Punkte, nach Literaturangaben) Verbreitung des Uferaases in Baden-Württemberg. Der aktuelle Fund an der Enz markiert das momentan südlichste Vordringen der Art entlang des Neckars (Bild: Karte Wikimedia Commons, verändert A. H. Staniczek / SMNS).

Massenhafter Schlupf ...

Pünktlich um 21:20 Uhr flog das erste Männchen an das Licht. Schon 15 Minuten später musste ich die Lampe ausschalten: Nach einer groben Schätzung waren da bereits 8.000 Individuen gelandet. Die Mengen an Insekten sind wirklich schwer vorstellbar, wenn man sie nicht einmal selbst gesehen und erfahren hat. Bei einer hohen Besiedlungsdichte kann man tatsächlich dabei zuschauen, wie sich eine Wolke schlüpfender Tiere aus dem Fluss erhebt, auf einen zufliegt und man im nächsten Moment von Tausenden und Abertausenden Tieren umflattert wird. Sicher nichts für jemanden mit Insektenphobie, aber bei mir erzeugt dies einen noch stärkeren Endorphinschub als Lübecker Marzipan. Aber nicht nur bei mir, denn der Schlupf in solchen Massen ist natürlich auch ein Festmahl für alle Fische, Vögel, Kleinsäuger und alle sonstigen Räuber, die im und am Fluss leben. Und alle Fliegenfischer können sich sicher sein, dass die Forellen auch an ihrem künstlichen Fliegenköder anbeißen. Nach dem Schlupf kann die Angel dann aber in der Ecke liegen bleiben, denn dann sind alle Fische vollgefressen und beißen eine Zeitlang nicht mehr an. Darin liegt im Übrigen auch der biologische Sinn des Massenschlupfes: Sind erst einmal alle Räuber vollgefressen, dann kann sich der überlebende Teil der Population ungefährdet der Fortpflanzung widmen.

... Häutung ...

Das gesamte Leben als erwachsenes Insekt dauert nicht länger als ein paar Stunden: Die ausgewachsene Larve schwimmt an die Oberfläche und häutet sich. Zuerst schlüpfen die Männchen, die den Zeitvorsprung vor den Weibchen nutzen, um zunächst ans Ufer zu fliegen und sich samt Flügeln nochmals zu häuten – ein einmaliger Vorgang, den es innerhalb der geflügelten Insekten nur bei Eintagsfliegen gibt. Unmittelbar nach der Häutung fliegt das Männchen auf der Suche nach einem Weibchen zurück zum Wasser. Die frisch aus der Larve geschlüpften Weibchen häuten sich nicht nochmals, sie werden in der Luft fliegend noch als Subimago begattet.

... und Ausbreitung!

Nach der Paarung können die Weibchen noch etliche Kilometer weit fliegen, um eine geeignete Stelle zur Eiablage zu finden. So wurden weibliche Tiere noch 10-20 km von ihrem Ursprungsgewässer entfernt gefunden. Dies macht das große Ausbreitungspotenzial der Art deutlich. Eine Gefahr stellt natürlich jegliches Licht dar, das die Tiere der erfolgreichen Fortpflanzung entzieht. In unserem Fall waren die riesigen Schwärme, die um die Flutlichtmasten des Sportvereins in Vaihingen-Roßwag und an den Laternen der Enzbrücke flatterten, rettungslos verloren.

Abendlicher Schwarm um die Flutlichtlaterne des Sportplatzes in Vaihingen-Roßwag am 20.8. um 21:33 Uhr (Bild: A. Rapp).

Ende der Flugschau

Eine Stunde später war das Spektakel auch schon wieder vorbei, so dass ich um 22:30 Uhr mit etlichen Exemplaren des Uferaases unter dem Hemd und im Gepäck wieder zusammenpacken konnte. Für diesen Abend also Ende der Flugschau, aber neue Chancen in den nächsten Nächten. Ephoron virgo schlüpft nämlich nicht nur in einer Nacht im Jahr, die Schlupfperiode dauert vielmehr von Ende Juli – Anfang September. Die meiste Zeit schlüpfen jedoch viel weniger Tiere, in Massen treten die Tiere nur zum Höhepunkt des Schlupfes innerhalb weniger Tage auf.

Auslöser für den Schlupf ist übrigens die Wassertemperatur. Die befruchteten Eier sinken auf den Gewässerboden. Erst Ende April des folgenden Jahres schlüpfen die Larven. Im Lückensystem des Gewässerbodens ernähren sie sich zunächst von Biofilm, später graben sie mit ihren Beinen und Kieferhörnern U-förmige Röhren am Gewässerboden. Die Larven sitzen dann geschützt am Grunde ihrer Röhre und erzeugen mit den Hinterleibskiemen einen permanenten Wasserstrom, der ihnen Feinpartikel als Nahrung mitbringt, die sie mit ihren behaarten Vorderbeinen und Mundwerkzeugen ausfiltrieren. So wachsen sie schnell heran, bis die Wassertemperatur in einer lauen Augustnacht wieder ein neues Spektakel auslöst. Gerade bei allen schlechten Nachrichten, die den Rückgang der Insekten allgemein betreffen: Es ist schön, dass man so etwas heute noch erleben darf.

Kopf und Vorderbeine der Uferaas-Larve sind stark behaart, um Schwebeteilchen aus dem Wasser zu filtrieren. Die Geweihe der Oberkiefer sind beim Graben der Wohnröhre dienlich. Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme (Bild: A. H. Staniczek / SMNS).

Film zum Blog: Unterwegs mit Insektenforschern. Heute: Der synchrone Schlupf der Eintagsfliege Ephoron virgo.

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